Amira Patel hat während der Pandemie das Wandern für sich entdeckt. Als Muslimin stößt sie in der Natur jedoch nicht immer auf Akzeptanz.
Als Amira Patel beim Wandern in ihrer heimischen englischen Umgebung irritierte Blicke registriert, beschließt sie, einen sicheren Ort für muslimische Frauen im Freien zu schaffen: The Wanderlust Women. Mit dieser Initiative und gemeinsamen Wanderungen will sie zeigen, dass Frauen aus ethnischen Minderheiten in keiner Weise eingeschränkt sind. Amira macht es sich und ihren muslimischen Mitstreiterinnen zur Aufgabe, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu äußern, um Barrieren und Klischees endlich abzubauen.

Während des Lockdowns startete Amira Patel eine erste Gruppenwanderung mit 30 Frauen. Es folgten anspruchsvollere Touren und abenteuerliche Expeditionen und der Zulauf wurde immer stärker. Amira und ihre wandernden Frauen genossen die Ausflüge in die neu entdeckte Freiheit und bereicherten die Natur mit ihrer Diversität, wie sie selbst auf ihrem Account schreibt. Inzwischen ist aus der Social-Media Wandertruppe „The Wanderlust Women“ eine große und festverbundene Gemeinschaft von über 10.000 Mitgliedern geworden, die hauptsächlich muslimische Frauen repräsentiert und zeigt, dass diese nicht unterdrückt werden, sondern die gleichen Dinge unternehmen können, wie alle anderen auch. Als eine starke Frau mit einer Vision und ihrer herausragenden Initiative war Amira Patel Teil der jüngsten Wolftrail-Kampagne von Jack Wolfskin. Diesmal begaben sich fünf Frauen auf eine außergewöhnliche Expedition in die österreichische Steiermark, um ihre Erfahrungen zu teilen und gemeinsam die einzigartige Natur zu erleben.
Wann und warum hast du mit dem Wandern angefangen?
Als Teenager hat mich meine Mutter zum Spazieren mitgenommen. Aber es hat mir damals absolut keinen Spaß gemacht, ich habe die ganze Zeit geheult, weil ich es so anstrengend fand. Als ich ein bisschen größer wurde, fing ich an, diese Zeit als eine Art Mutter-Tochter-Auszeit zu genießen. Ich glaube, es war in meinen frühen Zwanzigern, als ich den abenteuerlichen Aspekt des Reisens und Erkundens auch unbekannter Gegenden entdeckte. So habe ich zu meiner eigenen Art und meinem eigenen Tempo gefunden, mich draußen zu bewegen. Ungefähr im Alter von 24, 25 Jahren ging meine Ehe in die Brüche und ich verliebte mich in die Natur, die mir in dieser Zeit viel Trost und Hoffnung gab. Es war wie eine langsame Entdeckungsreise zurück zu den natürlichen Ursprüngen. Jetzt, wo ich 29 bin, ist die Natur mein Homeoffice und das Wandern mein Vollzeitjob!

Du Glückspilz! Du hast einmal gesagt, dass du dich ohnehin in der Natur wohler fühlst als im öffentlichen Raum.
Allerdings. Weißt du, die Natur ist ein Ort, an dem du du selbst sein kannst und nicht vorschnell verurteilt wirst. Für mich und als Teil meines Glaubens ist die Natur auch ein Ort, an dem wir uns gut auf Gott besinnen können und unserem Glauben nahe sind. Außerdem kannst du hier so richtig abschalten und zu dir selbst kommen. Dafür sind wir im Alltag oft zu beschäftigt. Wenn wir uns stattdessen vor einer imposanten Bergkette oder in einem Wald befinden, kommen wir zur Besinnung, empfinden vielleicht Dankbarkeit und sogar Demut. Man kann außerdem geordneter über sein Leben nachdenken, Stress bewältigen und auftanken. Und startet dann mit frischer Energie zurück in den Alltag.

Traurigerweise musstest du feststellen, dass es da draußen auch Leute gibt, die dich aufgrund deines Aussehens, deiner Kleidung anfeinden. Wie reagierst du auf solche Menschen und Äußerungen, was sagst du zu denen, die sich offensichtlich über dich oder dein Outfit wundern, wenn du mit Niqab oder Schleier wandern gehst?
Das kommt drauf an. Ich habe früh bemerkt, dass die Leute mich manchmal komisch ansehen oder sogar die Straßenseite wechseln, wenn sie mir entgegenkommen. Es ist nicht unbedingt Rassismus, eher eine Art Mikroaggression. Ich sage dann einfach immer „Hallo“ und gehe weiter. Aber es gab auch ein paar rassistische Begegnungen, bei denen mir Leute gesagt haben, ich solle nach Hause gehen oder woher auch immer ich komme. Oder sie haben mich gefragt, warum ich anhabe, was ich nun mal anhabe. Leute wie mich sieht man hier draußen einfach nicht. Manchmal sage ich „Hallo, ich bin Amira, ich bin eine erfahrene Wanderin und ich bin mit meiner Gruppe hier“, aber manchmal denke ich auch, dass es besser ist, einfach nicht zu antworten.
Besonders wenn ich alleine unterwegs bin, neige ich dazu, unangemessenes Verhalten zu ignorieren und nicht darauf einzugehen, um in nichts herein zu geraten. Wenn die Leute allerdings wirklich böse werden, melde ich mich auch zu Wort und sage: „Es ist nicht erlaubt, so etwas zu sagen, das ist rassistisch.“ Solch mikroaggressives oder rassistisches Verhalten ist leider ein Grund dafür, dass Menschen wie ich sich nicht ungezwungen oder sogar überhaupt nicht in der Natur bewegen, weil sie sich dort nicht wohl und sicher fühlen. Ich habe diese Probleme öffentlich angesprochen, zum Beispiel in den sozialen Medien, um auf dieses Thema aufmerksam zu machen.

Waren solche Erfahrungen der Grund oder die Initialzündung für die Wanderlust Women?
Ich habe die Wanderlust Gruppe gegründet, weil ich einen eigenen Raum für muslimische Frauen schaffen wollte, in dem sie nicht be- oder verurteilt werden. Und ich wollte sie während der Lockdown-Zeiten aus ihren Löchern holen und nach draußen bringen. Bei Outdoor-Aktivitäten und generell in der Landschaft mangelt es tatsächlich an Vielfalt, Muslime zum Beispiel sind hier nicht besonders gut vertreten und das hat Gründe. Es fehlte eine eigene Gemeinschaft, um sich einfach auszutauschen, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und sich hinauszuwagen. Wir als muslimische Frauen denken oft, dass wir nicht zugehörig sind. Wenn man sich Medien, Organisationen oder auch das Modegeschäft ansieht, werden wir meistens ausgeklammert. Erst jetzt verbessert sich diese Situation allmählich und man fängt an, Leute wie uns einzubeziehen. Ich wollte im Prinzip nur einen eigenen Raum für uns schaffen, der uns auch in der Öffentlichkeit repräsentiert. Das war der Grund für diese Gruppe. Und den Namen Wanderlust mochte ich schon immer.
Als Teil der Jack Wolfskin „Wolftrail“ Kampagne bist du in einer Gruppe von fünf Frauen durch die österreichische Steiermark gewandert – was habt ihr dort erlebt und wie war diese Erfahrung für dich?
Ich hatte eine tolle Zeit und ich bin sehr froh, dass ich dabei sein durfte, denn dieser Wolftrail ist wirklich einer meiner absoluten Favoriten unter all meinen Wandertouren. Trotzdem fühlte ich mich noch immer wie eine kleine Minderheit, einfach, weil ich auf dieser Wanderung niemandem sonst begegnet bin, der so aussieht wie ich. Aber ich habe auch festgestellt, dass solche Wandergruppen eine großartige Gelegenheit sind, überwältigende Landschaften insbesondere in fremden Ländern, zu erkunden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf eigene Faust und ohne diese Gruppe, in der ich mich wirklich wohlgefühlt habe, in der Steiermark Wandern gegangen wäre.
Gemeinsam mit der Regisseurin und Umweltaktivistin Roxy Furman hast du vor Kurzem den Film „I Am Capable“ über muslimische Frauen gedreht, die sich zum ersten Mal zusammen mit dir trauen, in der Öffentlichkeit zu Baden. Die Naturkulisse im Lake District ist wundervoll und die Atmosphäre wirklich einzigartig. Eine Frau fing plötzlich an zu Weinen und man konnte förmlich spüren, wie die Anspannung von ihr abfiel – das war sehr bewegend. Kannst du ein bisschen beschreiben, was da passiert ist?
Weißt du, muslimische Frauen werden oft übersehen. Es gibt keinen Raum für sie. Die Frau, die im Film geweint hat, hat zwar viele Freunde, aber sie haben nicht den gleichen ethnischen Hintergrund. Sie war zum ersten Mal im Lake District (Anm. d. Red.: eine bergige Region im Nordwesten Englands mit vielen Seen und Wäldern) und sie konnte nicht glauben, dass dieser schöne Ort in Großbritannien und dazu gleich um die Ecke liegt und wie wundervoll es dort ist. Und sie spürte, was sie sich bislang unnötig verweigert hatte, nur weil sie dachte, in dieser landschaftlichen Umgebung fehl am Platze zu sein. Deshalb war sie so emotional und weil sie ein Teil dieser gemeinsamen Entdeckungsreise und überhaupt plötzlich Teil einer Gruppe war.

Im vergangenen Jahr hast du überlegt, was du deinen Wanderlust-Frauen zusätzlich zu den Gruppenwanderungen bieten könntest, Achtsamkeitsseminare oder Kunsttherapie – was hat sich seitdem getan und wie sehen deine Zukunftspläne aus?
Wir sind soeben von einem Retreat zurückgekommen, dass ich initiiert hatte und bei dem es nur ums Reflektieren, Krafttanken und darum ging, wieder eins mit sich selbst und der Natur zu werden. Es ist nicht so, dass man einfach spazieren geht und sich plötzlich wieder mit der Natur verbunden fühlt, es gibt viele hilfreiche Möglichkeiten, um das zu forcieren, sei es durch das sogenannte „Grounding“ (Anmerkung der Redaktion: „Erdung“, eine Methode, um sich intensiv mit der Erde zu verbinden, beispielsweise durch direkten Hautkontakt mit der Erdoberfläche), durch Meditation oder indem man die Landschaften wirklich als Kulisse für eine Kunsttherapie nutzt. Solche Kurse haben wir gemacht und werden sie anbieten. Aber auch bei unseren Wanderlust-Touren geht es nicht nur ums gemeinsame Draußensein, wir möchten den Leuten auch die richtigen Fähigkeiten vermitteln, um auf eigene Faust loszuziehen und Landschaften zu erkunden. Dazu bieten wir viele verschiedene Aktivitäten an, wir machen Abenteuertouren, Bergwanderungen und Campingausflüge im Juni und wir trainieren unsere „Winter Skills“ im März, wie man zum Beispiel im Schnee gut vorankommt – es ist also viel los bei uns!
Da kommen ja tolle Sachen auf uns zu! Wie kann ich mitmachen? Gilt das Angebot nur für muslimische oder für alle Frauen?
Es ist für alle Frauen! Aber wir erhalten eine spezielle Förderung, um Frauen ethnischer Minderheiten zu helfen, die unterrepräsentiert sind, die bisher keinen Zugang zu Outdoor Aktivitäten hatten oder sich bislang nicht zugehörig fühlten. Aber natürlich wollen wir, dass alle mitmachen!
Danke Amira, du leistest großartige Arbeit und einen wertvollen politischen und kulturellen Beitrag!